Kuriositätenkabinett (Bretterspitze Westgrat)

Juli 20, 2018

Ich bin ja meist diejenige, die staunend den anderen zuschaut, wie sie Dinge tun, die ich für unmöglich halte. Aufrecht über Grate gehen. Ohne Steigeisen gefrorenen Schnee hochstapfen. Rhabarber essen. So Sachen halt. Umso verwirrender ist es, wenn man plötzlich auf der anderen Seite steht. 

Lechtal Hochvogel Bretterspitze»Keine Chance, das Schneefeld ist komplett gefroren!«. Wir waren gerade auf dem unglaublich gemütlichen Kaufbeurer Haus angekommen, unser Tagesziel, die Bretterspitze über ihren Westgrat (»der schönste Grat im zweiten Grad im Allgäu«!) war von hier endlich sichtbar und sah verlockend aus. Und dann sowas. Von einem einzelnen jungen Mann, mit Helm, ordentlichen Bergschuhen und offensichtlich großem Verantwortungsbewusstsein. Haben wir die Lage unterschätzt?

Der rutschende Gruppenführer

Kaufbeurer Haus Lechtal HütteWir hatten auf die warme Sonne und die Zustiegsbeschreibung der Jungs von Festivaltour gehofft, in der geschrieben stand, dass man die Schneefelder gut auch im Fels umgehen könne. Sprich: Wir standen da in Zustiegsschuhen und zwei Pickeln für vier Leute. Wir waren zu naiv, ärgerte ich mich insgeheim. Immerhin hatte ich stundenlang gegrübelt, ob nun Steigeisen oder nicht, aber am nächsten Morgen standen alle mit Zustiegsschuhen und mit dem Argument da: »Wenn es nicht geht, genießen wir den Tag auf der Sonnenterrasse!« Eine unkonventionelle Herangehensweise, aber irgendwie auch verlockend genüsslich.

Während wir im kollektiv noch die Risiken abwägten, kam die nächste Gruppe von oben. »Das da oben ist alles Eis!«, sagte der Mann und zeigte auf seine Hände, die er sich beim Abrutschen aufgekratzt hatte. Langsam bekam die Sache einen abenteuerlichen Beigeschmack. Wir wollten uns trotzdem unser eigenes Bild machen, und schlenderten im herrlichen Sonnenschein hinauf in Richtung des ominösen Schneefelds. Vielleicht würde ja die inzwischen warme Sonne helfen.

Der Aggressive

Normalweg Bretterspitze - bzw. Abstieg vom Bretterspitze WestgratDie Schneepassagen bis dorthin gingen gut, alles war angenehm weich, eigentlich ideal für unsere Halbschuhe. Weit oben sahen wir zwei Gestalten, die mehr auf allen vieren das Geröllfeld hinunterstiegen. Von weit weg rief uns der Mann zu, dass da oben kein Weiterkommen wäre. Wir sprachen sie an, woraufhin wir ein »absolut unmöglich, hier müsse man vernünftig sein, ich bin bergerfahren, das ist lebensgefährlich! Ihr müsst da gar nicht hoch, es ist besser, wenn ihr gleich hier unten umdreht!!« abbekamen. Von so viel muss etwas abgeschreckt, schlich ich schon mal weiter, um mir dieses Eiswerk selbst anzuschauen, immerhin wollten wir ja nicht wie alle bisherigen Aspiranten den Normalweg machen, sondern genau in die andere – sonnigere – Richtung. Das hatte bloß niemand erfragt.

Hochvogel Lechtal SüdseiteDie anderen holten sich währenddessen eine etwas aggressivere Runde (»Synapsen, Darwin, Höhenluft (?!)«) ab, während ich dem lauernden Schneefeld näher kam. Unscheinbar sah es aus, riesige Sommerschneedullen zierten die Oberfläche. Geringe Neigung, ein langer Auslauf. Irgendwie nicht gruselig, dachte ich und war von meinem positiven Bauchgefühl überrascht. Während ich langsam auf den schlafenden Tiger zulief, schloss ich trotzdem innerlich schon mit der Tour ab. Das haste jetzt von Deiner Sparsamkeit, selber Schuld!

Der verwirrte Hase

Schneefeld Bretterspitze QuerungUnd dann war ich da.  Mit aller Vorsicht tappte ich behutsam auf den Schnee, den Eindruck, den mir meine Fußsohle jetzt gleich an das Hirn schicken würde, würde über den ganzen Tag entscheiden. Die Idee mit der Sonnenterrasse fand ich jetzt auch nicht ganz schlecht, der Grat wäre allerdings nach deutlich über tausend Höhenmeter Zustieg auch verlockend.

Ich streckte also den Fuß aus und tappte vorsichtig. Die Meldung, die das Hirn empfing, wurde überrascht zur Validierung wieder zurück an den Fuß geschickt.

Nochmal, bitte, Meldung unklar! Der zweite Tappser war dann eindeutig: Der Schnee war weich. Nicht unendlich sulzig, aber bei Weitem auch nicht das, wonach die Stories klangen. Ich tappte noch einmal, diesmal weiter innen, vielleicht wird es ja erst dort irgendwo hart? Mächtig verwirrt und gleichzeitig überraschend entspannt tappte ich (ich!) nach oben und auf die andere Seite zum Fels, während die anderen ebenso entspannt folgten. Seltsam!

 

Der Mann in schwarz

Ein wenig seltsam war auch der lächelnde Mann in schwarz, der uns stumm folgte und auf die Frage, wohin er denn gehen wolle, mit »dort, wo ihr hingeht« antwortete. Bei drei verschiedenen Gipfeln zur Auswahl schien mir die Antwort komisch, ebenso komisch wie die Tatsache, dass er nach der souveränen Querung dieses Schneefelds umgedreht und wieder abgestiegen war, obwohl ab jetzt vorwiegend Fels wartete. Hatten wir irgendwas übersehen!?

Diese Ausrüstung war mit dabei: 

 

Ominöse Umkehrer

Bretterspitze Westgrat von Gliegergarkspitze gesehenDer Weiterweg zur Gliegergarkspitze ging jedenfalls problemlos, die Aussicht war schon mal großartig. Der Blick auf den Westgrat (kurz bis III-, alternativ bis II) auf die Bretterspitze, unser eigentliches Ziel für heute, ebenso. Nach einem kurzen Zeit-, Wetter- und Lustcheck stiegen wir in den Westgrat ein und feierten den überraschend festen Fels, während einige hundert Höhenmeter unter uns immer wieder Menschen umdrehten – entweder direkt vor dem Schneefeld, andere schon fast am Gipfel. Was war hier los?!

Bergsteigerin Klettererin

Genuss pur!

Ich jedenfalls feierte diese für mich ja schon fast ungewohnte Kletterei: Nie ernsthaft ausgesetzt, bombenfeste Mutantengriffe, herrliche Aussicht und entspannte Stimmung. Nach einer halben Stunde erkletterten wir die III-Wand, vor der ich beim Topo-Studium noch mächtig Respekt hatte. Sie entpuppte sich als maximal fest und überhaupt nicht ausgesetzt. Nur wenige Schritte danach folgt auch schon der sonnige Gipfel, ein Panorama zum Niederknien und noch dazu ein stabiles Wolkenloch exakt über uns. Manchmal hat man auch einfach rundum Glück!

 

Umgehung des Killerschneefelds

Statt der eigentlich geplanten Überschreitung (runter ginge es da eigentlich über den einfacheren Normalweg) wählten wir sicherheitshalber den Abstieg über den gerade begangenen Westgrat, einfach um das Killerschneefeld nicht berühren zu müssen. Alles ging easy, die kurzen Schneefelder waren inzwischen komplett weich und auch das ominöse untere Riesenschneefeld ging dank der vielen Sommerschnee-Mulden einwandfrei. Bin ich im falschen Film? Sonst bin ich doch immer der Angsthase vor dem Herrn, gerade bei Schneefeldern…

Abstieg Bretterspitze WestgratDer Hüttenwart des Kaufbeurer Haus’s empfing uns herzlich, versorgte uns mit Getränken, Geschichten und seiner sympatischen Art. Die Sonne wärmte uns, während die Schuhe langsam trockneten und wir mit einer fünfköpfigen Gruppe mitfieberten, die von der Hermann-von-Barth-Hütte kommend das Killerschneefeld durchqueren mussten. Es ging scheinbar, aber wir waren dennoch zufrieden mit unserer Wegwahl – sie war bestimmt die bessere für unsere leichten Schuhe.

Der lange Weg zurück

Kaufbeurer Haus Lechtal urige HütteUnd so wartete der einzige Wermutstropfen des ganzen Tages: Der restliche lange Abstieg hinunter nach Hinterhornbach (der Gleitschirm hätte bei dem starken Wind auch nichts geholfen…). Auf den herrlichen Bergpfaden ging aber auch der gut und so standen wir nach vielen trödeligen, gemütlichen und einfach schönen Stunden in den Bergen wieder am Auto. Verrückt, dieses klassische „Bergsteigen“. Könnte man glatt Fan davon werden!

[Die letzten fünf Bilder in dem Artikel sowie einige in der Galerie (gekennzeichnet) sind von © Immanuel Rapp]

 

 

Facts Bretterspitze Westgrat:

Bretterspitze Westgrat Lechtal GratDefinitiv ulligunde-tauglicher Grat, der den unteren dritten Grad nur dann streift, wenn man will. Man kann die Stelle auch einfach umgehen. Die Kletterei ist nie ernsthaft ausgesetzt, der Fels ist zum aller größten Teil bombenfest. Steigeisen mitzunehmen ist bis in den Juli hinein sicher angebracht, speziell wenn man früh unterwegs ist. Unbedingt auf dem gemütlichen Kaufbeurer Haus einkehren (Selbstversorgerhütte, zwischen Pfingsten und Oktober an den Wochenenden bewirtschaftet, ansonsten zugänglich mit AV-Schlüssel): Die Hütte ist ganz klein und unglaublich urig. Seit ihrer Erbauung Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich dort offensichtlich nicht allzu viel geändert!

Überschreitung Gliegergarspitze-Bretterspitze-Urbeleskarspitze

Es bietet sich theoretisch auch eine Überschreitung sämtlicher umliegender Gipfel an, wo nötig stecken inzwischen Bohrhaken. Auf den Hauptgipfel der Gliegergarkspitze führt ein Nordwestgrat (etwa bis 5-), am Verbindungsgrat zum Nebengipfel (den wir im Rahmen dieser Tour besucht haben) finden sich wohl auch ein, zwei Haken (auf dem großen Turm ist angeblich einer). Der Westgrat zur Bretterspitze ist problemlos, ebenso der Abstieg. Der Westgrat hinauf zur Urbeleskarspitze erfordert Kletterei bis in den vierten Grad, die Stände sind gebohrt, es müssen einige Bänder im „Allgäuer Edelbruch“ gemeistert werden. An den entschiedenen Kletterstellen ist der Fels aber wohl fest. Abstieg dann über den Normalweg der Urbeleskarspitze. Topos und alle Infos gibt’s auf der Hütte.

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5 Comments

  • Reply Michael Prittwitz November 20, 2018 at 12:41 am

    Liebe Erika,
    Ab und zu muss ich immer mal wieder auf Deine Seite schauen. Und muss feststellen, einer der schönsten Bergblogs — und ich schaue viele an … besonders seit ich achillessehenenbedingt zum Talschleicher und Radler geworden bin – jetzt schon vier Wochen, und das beim DEM Herbst! Ja, das tut schon weh. Und so schwingt beim Betrachten so schöner Bilder und Berichte (ein bisschen bin ich ja immer mit dabei, hast das nicht gespürt …😉) neben der Freude und Mitfreude auch immer ein bisschen Wehmut mit.
    Bretterspitze, da war ich mal, als Student in Ulm (ja, ich war auch mal jung 😉), als unser Florian noch ein Baby war und meine Frau unten in Häselgehr im Quartier gewartet hat) auf dem Normalweg vom Lechtal aus. Und ab und zu sind wir auch wieder in den geliebten Lechtalern bei Schwager- bzw. Bruderbesuchen. Aber dieser Grat wäre sicher auch was für uns, er sieht fantastisch aus, genau meine „Kragenweite“: luftige, genüssliche, leichte Gratklettereien ohne allzuviele Angststellen, wo ich meine Liebste auch mal kurz ans Strickerl nehmen kann, wenn sie sich allzusehr fürchtet. Vielleicht packen wir‘s ja mal. Ich werd mir‘s merken.
    Liebe Grüße aus Berchtesgaden
    Michael

  • Reply Hans Dezember 8, 2018 at 6:00 pm

    Der Mann in schwarz war sicher Dein Schutzendel …unheimlich …. :-

  • Reply Peter Kögel Juli 12, 2021 at 10:32 pm

    mit meinem Sohn 6 war ich auf einer Hütte, Name egal, da schaut er mich an, sagt: „gell Papa das nächste mal gehen wir wieder auf eine richtige Hütte – auf das Kaufbeurer Haus“. Wo er recht hat …
    er hat schon mit 6 Jahren verstanden, dass dort oben ein wohl einmaliger Platz ist.

  • Reply Andreas Juni 7, 2023 at 2:47 pm

    Hi,
    Dein Bericht hat richtig Lust auf diese Tour gemacht und ist einfach wunderschön geschrieben! Trotzdem hab ich eine eher unprosaisch-pragmatische Frage: wo gibts denn den erwähnten topo für die Tour? Meine bescheidenen Recherchefähigkeiten haben jedenfalls nicht gereicht um den aufzustöbern…

    • Reply ulligunde Juni 12, 2023 at 6:49 am

      Guten Morgen!
      Die Tourenbeschreibung findest du im Buch „Alpine Bergtouren im Allgäu und Lechtal“ von Kristian Rath.
      Liebe Grüße!
      Erika

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