Konkrete Tipps und Übungen zur Angstbewältigung

Mai 10, 2016

Dies ist ein Artikel der Rubrik „Besser klettern“ – hier geht’s zur Übersicht.
Und hier geht’s zurück zum vorigen Artikel „Angst beim Klettern – wovor fürchten wir uns eigentlich?

Schluss mit Blabla, jetzt wird’s konkret:

Visualisieren

Route visualisierenSchau Dir die Tour von unten exakt an. Wo sind Rastpunkte? Wie könnte die Griffreihenfolge sein? Von wo kannst du die Exen klippen? Wo ist das Sturzgelände unproblematisch? Wo könnten schwere Züge lauern und wo ist dann der nächste Rastpunkt?

Wenn Du die Tour bereits im Kopf durchgegangen bist (greife ruhig mit den Händen die Griffe geistig an!), bestimmte Rastpunkte (Zwischenziele) identifiziert hast und Dir für bestimmte Sequenzen Bewegungsideen überlegt hast, hast Du eine wertvolle Vorarbeit geleistet und musst während der Tour weniger nachdenken. Arno Ilgner beschreibt in seinem Buch sehr gut, dass es entscheidend ist, das „denken“ (thinking) vom „bewegen“ (moving) zu trennen. Beim Rasten: Schauen, überlegen, einen Plan zurecht legen. Dann bewusst von diesem Modus in den „Kletter-Modus“ wechseln, in dem es kein Denken mehr gibt, sondern nur noch TUN. „Never mix thinking and moving!“ sagt er.

Die Visualisierung ist ein wichtiges Instrument, das man gerade beim Wettkampfklettern immer sieht. Sie ist sehr hilfreich, weil Du insgesamt besser vorbereitet bist. Vorausgesetzt, du kannst die Visualisierungsarbeit auch wieder abrufen und vergisst nicht vor Aufregung alles wieder. Wenn das der Fall ist, hast Du direkt etwas gefunden, das du trainieren solltest 😉

Tour in Zwischenerfolge teilen

Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass ich viel konzentrierter klettere, wenn ich im Vorstieg unterwegs bin, anstatt im Nachstieg. Im Nachstieg ist nämlich der Umlenker das Ziel. Beim Vorstieg ist es die nächste Exe. So wird die Tour in kleine Zwischenetappen unterteilt und man klettert immer nur ein paar Züge bis zum nächsten Zwischenziel. So wirkt die Route auch nicht so einschüchtern, denn es sind viele kleine Etappen, die man eigentlich gut schaffen können sollte. Sieht man als Ziel einzig die gesamten 35 Klettermeter, taucht viel schneller das Gefühl auf, „das schaffe ich ja sowieso nicht“.

Gedankenstopp

Klettern macht ohne Angst so viel mehr Spaß.Welche „Bremsgedanken“ drängen sich am häufigsten bei Dir ins Klettern ein? „Der Griff sieht schlecht aus“, „den kann ich nie halten!“ „bis zur nächsten Exe komme ich niemals!“ „meine Arme sind schon so zu!“. Identifiziere diese Gedanken und überlege Dir einen alternativen, ganz kurzen Satz. Das kann zum Beispiel „Julia, du schaffst das!“ sein. Bei mir persönlich ist es „Ich geb alles!“. Sobald sich einer dieser „Bremsgedanken“ in den Kopf schleicht, sage Dir diesen Satz wie ein Mantra auf. Ruhig auch laut, sodass es alle hören können!

ATME!

Achte ganz explizit auf Deine Atmung – am besten vom ersten Zug der Tour an. Ganz tief, ganz regelmäßig und LAUT! Ich selbst habe bei allen schweren Durchstiegen ganz bewusst laut und tief geatmet. Gerade heute wieder und ich habe tatsächlich das Gefühl, dass wenn man wirklich laut atmen, die Zweifel und „Bremsgedanken“ überhaupt nicht bis zu einem durchdringen. Ich konzentriere mich nur auf das tiefe Ein- und Ausatmen und lenke so die Gedanken weg von denen, die mich bremsen. Pfeifen hat übrigens den gleichen Effekt! Da ertappe ich mich regelmäßig beim Alpinklettern.

Mache den Partnercheck

Stimmt alles mit dem Material?Wenn wir schon beim Thema „Gedankenlenkung“ sind: Es gibt einen Gedanken, der sich häufig einschleicht und den ihr noch am Boden direkt abstellen könnt. Nämlich: „Ist mein Knoten richtig?“. Führt gewissenhaft und JEDES MAL einen ordentlichen Partnercheck durch. Schleicht sich der Gedanke dann in der Wand ein, könnt ihr ihn sofort beiseite schieben. Ja, der Knoten passt. Alles gut.

Denke positiv – vom Boden weg. Ich will!

Gehe positiv an eine Route. Sage nicht „ich schaue mir die Tour mal an“ oder „die Tour ist eh viel zu schwer für mich“. Sage stattdessen selbstbewusst und entschieden: „Ich klettere jetzt diese Tour“. Gib dabei alles.Will es wirklich! Gehe an Dein Limit und kämpfe! Es kann nichts passieren!

Einer geht noch

Atmen...!Der Griff ist schlecht, der nächste Zug sieht schwer aus. Wie einfach wäre es, jetzt „zu“ zu sagen und auf der sechsspurigen Autobahn zu bleiben. Dein Kopf will Dich raus aus dem Stress und zurück in die Komfortzone bringen. Gib ihm nicht diese Macht über deine Handlung! Versuche noch EINEN Zug, einen einzigen. Verzögere die Entscheidung, dich ins Seil zu setzen. Versuche grundsätzlich noch einen weiteren Zug! Dadurch begibst Du Dich jedes Mal einen Schritt aus der Komfortzone hinaus und weitest sie auf diese Weise kontinuierlich aus. Und irgendwann befindet sich dieser EINE weitere Zug innerhalb deiner Komfortzone.

Stürze

Ein alter Tipp, der sich auch in dieser Rubrik im Blog immer wieder wiederholt. Aber es ist meiner Meinung nach das effizienteste Tool, um die „grundlose“ Angst beim Sportklettern abzulegen. Hole ungefährliche, übliche Stürze in Deine Komfortzone, sodass Du entspannter und mit mehr Freude klettern kannst.

Ohne Rücksprache stürzen

Sturztraining am Hohen IfenDer heilige Gral! Wer beim Sturztraining bzw. Sportklettern so weit ist, dass er unvermittelt und ohne Rücksprache mit dem Sichernden ins Seil springt, der „hat es geschafft“. Das erfordert tiefes Vertrauen in den Seilpartner, dessen maximale Aufmerksamkeit und exzellente Sicherungsfähigkeiten. Ganz ehrlich? Das ist mein Ziel! Da will ich hin!

Kein „zu“!

Das ist harter Tobak und wohl nur etwas für Kletterer, die zumindest die grundlegende Sturzangst abgelegt haben und wirklich motiviert sind. Es ist aber auch die effizienteste Herangehensweise, denn einerseits stürzt man unglaublich häufig und andererseits lernt man, bis zum Limit zu klettern. Außerdem lernt der Körper, wie viel noch geht, wenn sich die Muskeln bereits müde anfühlen. Aber wie gesagt, das ist hart und braucht einen starken Willen.

Lass es ruhig auch mal bleiben, aber sei ehrlich zu dir

Sturztraining erfordert unglaublich viel Überwindung, man muss es wollen. An Tagen, an denen es sich einfach so gar nicht nach Sturztraining anfühlt, ist es besser, lieber etwas anderes zu trainieren oder einfach der Freude halber Touren zu machen. Wichtig dabei ist aber, sich ehrlich zu hinterfragen, ob man gerade nur aus „Bequemlichkeit“ keine Lust auf Sturztraining hat oder ob es „echt“ ist. Ist das Gefühl „echt“, treffe die bewusste Entscheidung, heute kein Sturztraining zu machen. Entscheidet man sich bewusst, gibt es im Nachhinein auch kein „ach hätte ich doch“. Wenn dieser Gedanke doch auftaucht, kann ich mich noch einmal hinterfragen und künftig besser lernen, „Bequemlichkeit“ vom „echten Bauchgefühl“ zu unterscheiden.

Hab Freude

Hauptsache Freude beim Klettern!Je mehr Freude man hat, desto weniger Platz ist für Angst. Wähle Dir die Touren nicht nach dem Schwierigkeitsgrad aus, sondern nach der Ästhetik der Linie. Danach entscheidet sich dann, ob es ein Onsight-Versuch oder ein Projekt wird. Aber habe Spaß an Deinem Freizeitsport, mache Dir nicht zu viel Druck und habe Geduld. Man wird unweigerlich besser, wenn man regelmäßig klettern geht, sich seiner Angst stellt und intrinsisch motiviert ist. Gebe Deinem Fortschritt aber auch Zeit und genieße jeden einzelnen Schritt! Akzeptiere die Angst als Teil des Kletterns, ärgere dich nicht über Tage, an denen es nicht läuft. Habe Freude.

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Hier geht’s zu den Erkenntnissen von Arno Ilgner

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9 Comments

  • Reply Angst beim Klettern bewältigen – Grundlagen | ulligunde.com Mai 10, 2016 at 10:17 pm

    […] >> Im nächsten Artikel findest Du konkrete Tipps, um mit der Angst beim Klettern umzugehen […]

  • Reply Andreas Hüsch Mai 11, 2016 at 8:31 am

    Liebe Ulligunde,

    schau hier ist mein Video-Beitrag zu dem Thema: https://www.youtube.com/watch?v=NFzDFEWuXdI

    Viele Grüße,
    Andreas

    • Reply ulligunde Mai 11, 2016 at 10:41 pm

      Hi Andreas,

      in der Artikelreihe geht es weniger um Höhenangst, wo die Angst vor einem Sturz ja durchaus begründet ist (der Sturz an sich wäre ja meist gefährlich) – die Reihe zielt eher aufs Sportklettern, wo Stürze ins Seil ja einfach dazugehören und sie auch nicht wirklich gefährlich sind. Diese „unbegründete Angst“ loszubekommen, darum geht es im Artikel. Es folgt aber auch noch einer über die Höhenangst, denn es gibt auch dort viele Möglichkeiten, gegen dieses Gefühl anzukämpfen. Sowohl als Tourenleiter, als auch als Betroffener.

      Liebe Grüße

      PS: Dass 9 von 10 Leuten keine Höhenangst haben, die es meinen, würde ich übrigens unterschreiben. Allerdings macht es für die Betroffenen keinen Unterschied. Man fürchtet sich einfach, egal ob es jetzt „echte“ oder „unechte“ Höhenangst ist. Wenn man es aber anpacken will, kann man sie in jedem Fall „therapieren“ – ich seh’s ja bei mir selbst grad. Es ist aber grad am Anfang ein anstrengender Weg, den man selbst gehen wollen muss.

  • Reply Stefanie Mai 11, 2016 at 10:25 pm

    „Hole ungefährliche, übliche Stürze in Deine Komfortzone, sodass Du entspannter und mit mehr Freude klettern kannst.“ Wow! Sehr schön geschrieben! Darf ich das mit Verweis auf Inspiration durch dich in einer Grafik teilen?
    Geht mir nämlich genau so, der erste Sturz nach langer Zeit bei einer Route ist manchmal ziemlich schlimm, der 2. auch noch etwas, nach dem Dritten wird’s besser. Der ist dann wieder in der Komfortzone drin.

    • Reply ulligunde Mai 11, 2016 at 10:32 pm

      Hi Stefanie! Freut mich, wenn Dir der Satz gefällt! Solange der Verweis deutlich ist, kannst du ihn natürlich gerne verwenden!

      Der Körper gewöhnt sich schnell ans Stürzen, man muss es nur regelmäßig machen. Auch wenn es am Anfang furchtbar viel Überwindung kostet…

      LG! Erika

  • Reply Elena Mai 15, 2016 at 10:44 am

    Liebe Ulligunde,

    meine Kletterkünste liegen (leider) schon seit einer Weile brach, dafür sitze ich gerade in den letzten Zügen meiner Masterarbeit, raufe mir deshalb gelegentlich die Haare und freue mich tierisch über Deinen Text. Ich les ihn mindestens einmal am Tag um dranzubleiben und mich zu motivieren.
    Ich hoffe, Du verzeihst mir diese kleine Zweckentfremdung 😀 Absolut großartiger Artikel, den ich ganz bestimmt immer wieder lesen werde, vielen vielen Dank dafür!

    Herzlich, Elena

    • Reply ulligunde Mai 18, 2016 at 9:56 am

      Liebe Elena,

      damit versüßt Du mir den Tag!! Das freut mich riesig, wenn ich damit andere motivieren kann. Dann hab ich mein ganzes Ziel erreicht 🙂 Viel Erfolg noch mit der Masterarbeit und danach wird dann bestimmt wieder kräftig angegriffen – ganz ohne Angst, hoffentlich 🙂

      Liebe Grüße!

      Erika

  • Reply Besser klettern: in den sechsten Grad | ulligunde.com Mai 18, 2016 at 5:21 pm

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  • Reply Blind Date in Arco: Genuss pur mit drei wilden Mädels | ulligunde.com Mai 19, 2016 at 9:26 am

    […] Besser klettern: in den sechsten Grad | ulligunde.com bei Konkrete Tipps und Übungen zur Angstbewältigung […]

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